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Expertenbeiträge

Belgien – ein produktives Sujet ‘kultureller Übersetzungsprozesse‘

Sabine Schmitz

Deutschland hat neun Nachbarn, so viele wie kein anderes Land in Europa. Belgien und seine Einwohner zählen zu den unbekannten Nachbarn. Dies zeigt auch eine von der Deutschen Presse-Agentur 2022 in Auftrag gegebene Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov, in der besonders beliebte Nachbarländer von in Deutschland lebenden Personen ermittelt wurden. Belgien landete in dieser Untersuchung auf dem letzten Platz. Dieser Befund mag angesichts der Tatsache, dass Belgien in der Mitte Europas liegt und in seiner Hauptstadt zentrale Institutionen der Europäischen Union und der europäisch-transatlantischen Kooperationen beheimatet sind, überraschen. Wichtige Faktoren für dieses zurückhaltende Interesse an dem Land und seinen Bewohnern sind einerseits die ihm eigene anspruchsvolle konstitutionelle Architektur und andererseits die in der Verfassung verankerte Dreisprachigkeit. In der Folge sind kulturelle Übersetzungsprozesse in wissenschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Kontexten, in denen die Vermittlung und kritisch-reflektierte Auseinandersetzung mit ‚Belgien‘ im Fokus stehen, von hoher Komplexität und zudem in Deutschland nur vereinzelt zu finden.
Anhand von Fallbeispielen werden die angedeuteten Herausforderungen für die Kulturwissenschaften in analogen und digitalen kulturellen Übersetzungs- und Transferprozessen zwischen Deutschland und Belgien beleuchtet. Mit der Metapher ‚kulturelle Übersetzung‘ werden in diesem Kontext Transferprozesse erfasst, in denen die Mediation kultureller Differenz dezidiert mitgedacht oder gar im Fokus steht. Im Anschluss an die Analyse der Motivationen, Strukturen, Inhalte und Funktionen der vorgestellten Beispiele wird eine Diskussion über das Potential des Sujets ‚Belgien‘ für die Sichtbarmachung der Komplexität von ‚Übersetzbarkeit kultureller Differenz‘ angestrebt.

Zur Problematik der belgisch-deutschen Literaturübersetzung – Impulsvortrag

Anja van de Pol-Tegge

In der Studie Belgische Literaturen in deutscher Übersetzung - Kulturelle und historische Verflechtungen von 1945 bis zur Gegenwart (2023) wurde erstmals der mehrsprachige belgische Ausgangskontext systematisch berücksichtigt. Es wurde ein übergreifender translationswissenschaftlicher Betrachtungsmodus geschaffen, der nicht nur die Übersetzungswissenschaften methodologisch anreichert, sondern ebenfalls einen Beitrag leistet zu den aktuell virulenten Forschungsgebieten Literatur und Mehrsprachigkeit, Kultur und Transfer sowie zur Rezeptionsforschung und allgemeinen Belgienforschung. Vor allem für das Gelingen eines vielsprachigen Europas ist die Reflexion über kulturelle Verflechtungen sehr wichtig. Ziel ist es daher, nunmehr vorliegende Ergebnisse zu Funktionsweisen belgisch-deutscher Kulturkontakte anhand des Mediums der literarischen Übersetzung weiterzuentwickeln. Dabei soll einerseits die spezifische belgisch-deutsche Problematik sichtbar gemacht werden, andererseits ein allgemeiner Erkenntnisgewinn zu kulturellen Transfers aus mehrsprachigen Kontexten erfolgen.

Gegenstand ist zunächst die Weiterentwicklung einer Definition belgischer Literaturen als Ausgangspunkt für weitere Rezeptionsuntersuchungen zu belgischen AutorInnen, Genres oder literarischen Phänomenen. Einen konzeptuellen Schwerpunkt des Vortrags bildet die Erweiterung von Modellen des literarischen Transfers als Grundlage für die umfassende Untersuchung kultureller Übersetzungsprozesse aus mehrsprachigen Kontexten. Vor diesem Hintergrund soll methodologisch der Mehrwert der Übersetzungswissenschaft für kulturwissenschaftliche Fragestellungen weiter herausgearbeitet werden. Insbesondere gilt es in diesem Zusammenhang, soziologische Einflussgrößen, also Akteure wie Institutionen, Verlage oder ÜbersetzerInnen, stärker in den Fokus zu rücken und systematisch in Untersuchungen des belgisch-deutschen Transferprozesses einzubeziehen.

Der vielgestaltige Nachbar Georges Simenon - Zu den Neuübersetzungen in der Kampa-Gesamtausgabe

Céline Letawe

Georges Simenon ist der meistübersetzte französischsprachige belgische Autor. Seine Werke wurden in mehr als fünfzig Sprachen übertragen, wobei die meisten Übersetzungen ins Deutsche erfolgten. Die deutschsprachigen Leser entdeckten Maigret im Jahre 1934, bereits drei Jahre nach Veröffentlichung der ersten Originalbände. Ab den 1950er Jahren schließlich wurden Simenons Bücher massiv ins Deutsche übersetzt. Eine Erklärung für diesen Erfolg kann darin gesehen werden, dass Simenon es mit seinen Werken vermochte, ein Vakuum im damaligen deutschen Literatursystem zu füllen und einen Platz zwischen den Polen Hoch- und Unterhaltungsliteratur einzunehmen.
Doch auch heute noch wird Simenon auf Deutsch gelesen und sogar neu veröffentlicht. So wird vom Schweizer Kampa-Verlag, nachdem viele Bände vergriffen waren, seit 2018 die „erste deutschsprachige Gesamtausgabe seines erzählerischen Werks“ herausgegeben (über 200 Bände). Interessanterweise handelt es sich hierbei um Neuübersetzungen bzw. einige erstmalig auf Deutsch erschienene Texte. Die überwiegende Mehrheit hiervon ist mit einem Nachwort (zumeist von einer/einem anerkannten AutorIn oder KritikerIn) versehen. Diese Peritexte sind von besonderer Bedeutung als potenzielle Orte der Sichtbarkeit von ÜbersetzerInnen und Übersetzung. Im Vortrag soll anhand einer Fallstudie (Die Phantome des Hutmachers, Original von 1949, erste deutsche Übersetzung von 1982, Neuübersetzung von 2019) herausgearbeitet werden, welche Strategien der Neuübersetzung zugrunde liegen. Geht es dabei nur darum, den Text zu aktualisieren, nach dem Motto des Neuübersetzerpaars Juliette Aubert und Mirko Bonné: „Ungerechterweise hat ja immer nur die Übersetzung ein Verfallsdatum, nie aber das Original“?

Französischsprachige belgische Dichtung in deutscher Übersetzung seit 1970 - Eine Bestandsaufnahme

Hubert Roland

Mit Initiativen wie dem seit 1931 regelmäßig erscheinenden Journal des Poètes oder der seit Anfang der 1950er Jahre in Knokke stattfindenden Veranstaltung der Biennales de Poésie hat sich Belgien als Traditionsort für Dichtung der Gegenwart in französischer Sprache etabliert. Nicht nur wurde Lyrik aus Europa und aller Welt vor diesem Hintergrund systematisch übersetzt und vermittelt, sondern  französischsprachige Dichtung ebenfalls im Lande selbst gepflegt und gefördert. Mein Beitrag untersucht, wie dieser Impetus sich möglicherweise auch in einer Rückbewegung als Übersetzung von belgischer Lyrik ins Deutsche widerspiegelt.

Fest steht auf jeden Fall, dass das deutschsprachige ostbelgische intellektuelle Feld diese Vermittlungsfunktion in den Zeitschriften obelit – die ostbelgischen literaturhefte (1976-1984) und Krautgarten. Forum für junge Literatur ziemlich resolut zugunsten der französischsprachigen belgischen Lyrik übernahm. Da diese Zeitschriften sich zu einem Teil eines Netzwerkes mit benachbarten und weiteren deutschsprachigen Regionen in Europa entwickelten, beförderten sie hierdurch eine größere Verbreitung der französischsprachigen belgischen Dichtung, auf deren vermittelte Hauptmerkmale und -tendenzen ich eingehen möchte. Als besondere Fallstudie wird die neuere zweisprachige Ausgabe des Dachau-Gedichtzyklus von Arthur Haulot Si lourd de sang – Mit Blut durchtränkt. Poème pour l’Europe – Gedicht für Europa in der Übersetzung von Léo Wintgens (Helios & Obelit III, 2007) geltend gemacht.

Kontinuität und Neubeginn – Die Rezeption der flämischen Literatur nach 1945 im Spiegel deutscher Übersetzungsanthologien

Heinz Eickmans

Gegenstand des Vortrags sind die nach 1945 erschienenen Anthologien mit Übersetzungen niederländischsprachiger Prosaliteratur, soweit sie auch oder ausschließlich Texte flämischer Autorinnen und Autoren enthalten und darüber hinaus einen allgemeinen Überblick über die Literatur Flanderns (bzw. Flanderns und der Niederlande) zu einer bestimmten Zeit oder über einen bestimmten Zeitraum intendieren.

Solche ‚Länderanthologien‘ eignen sich in besonderer Weise, Einsichten in die Rezeption fremder Literaturen zu gewinnen. Sie sind zunächst selber Teil des primären Literaturtransfers insofern als sie Texte aus der Literatur eines fremden Landes oder Sprachgebiets in der Zielsprache präsentieren. Darüber hinaus aber spiegeln sie durch die Auswahl der Texte die Sicht der Herausgeber auf die betreffende Literatur. In den meisten Fällen enthalten die Anthologien vielfältige weitere Informationen in Vor- oder Nachworten, Klappentexten und sonstigen Paratexten.

Zur Beantwortung der Frage, welche spezifisch deutschen Aspekte es in der Wahrnehmung der flämischen Literatur möglicherweise gibt, sollen die Befunde zu den deutschen Übersetzungsanthologien verglichen werden mit dem Bild, das zwei umfangreiche, zu Beginn des 21. Jahrhunderts erschienene Kanonanthologien aus Flandern und den Niederlanden von der flämischen bzw. flämischen und niederländischen Literatur zeichnen.

"Flämische Kulturschickeria oder europäische Gemeingültigkeit"?

Lut Missinne

In deutschen Übersetzungen geht der Unterschied zwischen flämischen und niederländischen Büchern verloren: „das ist der Preis, den man bezahlt, um über die Grenzen hinweg zu lesen und gelesen zu werden“, schrieb H. Brandt Corstius im ,Flandern und die Niederlande‘-Buchmessejahr 1993. Das mag zwar größtenteils für das heutige deutsche Publikum und die Kritiker gelten, aber die Frage, ob ein übersetztes literarisches Werk von einem flämischen oder niederländischen Autor geschrieben wurde, wird und wurde längst nicht immer unter den Teppich gekehrt.

In meinem Beitrag werde ich anhand einiger Stichproben der Frage nachgehen, in welchem Maße und auf welche Art und Weise bei der Präsentation und Rezeption von ins Deutsche übersetzter niederländischsprachiger Literatur die nationale Herkunft des Werkes berücksichtigt wird. Dafür untersuche ich einige besondere Zeiträume, wie die fünfziger und sechziger Jahre, in denen der Übersetzer Georg Hermanowski besonders produktiv war, sowie die Jahre der Frankfurter Buchmesse, 1993 und 2016, in denen Flandern und die Niederlande zusammen Gastland waren.

 

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